B&T STATEMENT PIECE l Corona betrifft alle. Auch wenn wir das schon oft gehört und gelesen haben, sind wir doch erstaunt, wie traurig wahr diese Feststellung ist. Auch die Textilbranche ist brutal von der Corona Krise getroffen. Während Einzelhändler mit dem Problem konfrontiert sind, ihre Waren wegen der Ladenschließungen etliche Wochen gar nicht oder nur online abverkaufen zu können, was immer schwieriger wird, je mehr die Konsumlaune in angestrengten Coronazeiten sinkt, desto mehr gerät aus dem Blick, was auf der anderen Seite der Lieferkette passiert. Und die textile Lieferkette ist lang. Sie umfasst alle Schritte, die es für ein Kleidungsstück braucht: Baumwollanbau, Färben, Fertigung, Transport und Logistik. Dass dabei Menschen involviert sind, ist klar. Welche große, fatale Spirale sich aufbaut, vielleicht nicht.

Durch die Corona-Pandemie bricht das globale Lieferkettensystem der Textilbranche zusammen wie ein Kartenhaus.

Stark betroffen von den Ladenschließungen sind neben den kleinen Stores auch die Fast Fashion Ketten, die ihr Sortiment alle 4-6 Wochen verändern und kontinuierlich riesige Mengen einkaufen. Nun bleiben viele auf ihren Frühjahrskollektionen sitzen, die – im Vergleich zu Fair Fashion Playern mit nur zwei Kollektionen pro Jahr – eine verdammt kurze Halbwertszeit haben. Es ist zu vermuten, dass die großen Textilplayer mit riesigen Rabattschlachten starten werden, um die verlorenen Verkaufswochen nachzuholen, sobald sie ihre Stores wieder öffnen können.

Den Druck, den diese Situation verursacht, reichen viele Unternehmen an ihre Zulieferer weiter: Sie stornieren Aufträge, nehmen bestellte Waren nicht mehr ab oder handeln Preisnachlässe aus. So hatte nach Angaben des Centers for Global Workers Right der Textilgigant Primark Order in Höhe von 273 Millionen Dollar gecancelt, auch das deutsche Unternehmen C&A gehört zu den Händlern, die ihre Aufträge in Höhe von 166 Millionen Dollar zurückgenommen haben (Stand 22.4.2020). Und es gibt viele weitere Textilgiganten, die so verfahren. Eine aktuelle Liste findet sich etwa hier. Die Corona-Pandemie wird dabei als Ereignis höherer Gewalt kommuniziert, um aus laufenden vertraglichen Verpflichtungen auszusteigen. Mit gravierenden Folgen: Laut dem europäischen Textil- und Bekleidungsverband Euratex bauen derzeit 80% der Unternehmen im Textilsektor ihre Belegschaft ab. Bei der Hälfte von ihnen sind Umsatz und Produktion bereits um mehr als 50% zurückgegangen.

Wenn Armut tödlicher ist als Corona

Für die Textilarbeiter*innen etwa in Indien, Kambodscha, Myanmar oder Bangladesch bedeutet das, dass sie – neben der teils katastrophalen Gesundheitsversorgung – für geleistete Arbeit aktuell keinen Lohn bekommen, denn ihren Arbeitgebern fehlen dafür die Auftragszahlungen. Hunderttausende Fabrikarbeiter in Asien sind damit nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) existenziell bedroht. Das ausgerechnet in Ländern ohne die Sicherheit von Sozialhilfen oder stabilen Gesundheitssystemen. Damit sind erneut die schwächsten Glieder der textilen Wertschöpfungskette betroffen.​ Und die dabei entstehende Armut könnte tödlicher wirken als die Covid-19 Erkrankung allein.

Am schlimmsten trifft es Myanmar, Kambodscha – und Bangladesch, die Nähstube der Welt, die von der Textilindustrie abhängig sind wie kaum andere Länder: 84 Prozent der Gesamtexporte des Landes entfallen auf den Kleidungssektor. Bereits am 22. März, ergab eine Umfrage unter dortigen Arbeitgebern, hatten die Auftragsstopps rund 1,4 Milliarden Dollar erreicht.

Fashion Revolution Week

Die Textilindustrie ist eine Industrie, die ohne ihre globalen Beziehungen nicht auskommt. Eine Vielzahl an Textilunternehmen greift seit Jahren auf die viel zu schlecht bezahlten und oftmals unter unwürdigen Bedingungen arbeitenden Arbeitskräfte in Asien zurück – um sie im Falle einer Krise plötzlich fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel. Wo nur bleibt die Solidarität der Auftraggeber für ihre Produzenten? Wo das langfristige Denken, dass all die Textil*arbeiterinnen auch in naher Zukunft wieder gebraucht werden? Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns über das respektlose Gebaren von Textilgiganten wundern. Am 24. April ist es ganze 7 Jahre her, dass beim Einsturz von Rana Plaza in Bangladesh 1.138 Menschen starben und mehr als 2000 verletzt wurden. Und was ist seitdem passiert? Noch nicht genug, finden nicht nur wir, sondern auch das globale Aktionsbündnis Fashion Revolution, das seit 2013 jährlich auf die Missstände in der Textilbranche aufmerksam macht. Mit der Frage und dem Hashtag Who made my Clothes? fordert die globale Kampagne auch in dieser Woche zur Auseinandersetzung mit der Herkunft unserer Bekleidung auf. Dadurch soll das Bewusstsein von Modekonsument*innen für transparente Produktionsketten und faire Arbeitsbedingungen gesteigert und konventionelle Modemarken sensibilisiert werden, faire und ressourcenschonende Produktionsprozesse umzusetzen. Dennoch müssen Textilarbeiter*innen weltweit Tag um Tag für menschenwürdige Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Corona-Pandemie verschärft diese Missstände um ein Vielfaches.

Fashion Revolution Deutschland präsentiert passend dazu dieses Jahr CRISIS FASHION: einen Webshop, der die Methoden der Fast Fashion Brands satirisch umwandelt und so Aufmerksamkeit auf die Situation der Näher*innen in den schwer getroffenen Produktionsländern lenkt. Im Fake-Webshop ​​crisis.future.fashion​ kann man ein weißes T-Shirt für nur 50 Cent erwerben. Beim Print stehen Optionen wie „Never pay bills“ oder „Exploi-t“ zur Auswahl, bei der Größe etwa „Large Payment Gap“. Sobald man das Shirt in den Warenkorb legt, passiert der eigentliche Weckruf: Der Shop zerfällt mit den Worten „Crisis is not a fashion“, legt die Lage der Textilarbeiterinnen offen und fordert uns auf, in Zeiten von Corona und Fashion revolution unsere Lieblingsbrands zu fragen, ob wie auch weiterhin ihre Textilarbeiter*innen bezahlen.

Anstelle weiter billige Fast Fashion zu konsumieren geht es in Coronazeiten einmal mehr darum, die Menschen in den Produktionsländern nicht aus dem Blick zu verlieren und sie wertschätzend und menschenwürdig zu behandeln. Wer mehr tun will, kann etwa mit einer Spende an den Corona-Nothilfefonds von FEMNET Textilarbeiter*innen Indien und Bangladesch unterstützen. Bereits mit 20 Euro kann in Tamil Nadu im Süden Indiens eine vierköpfige Familie 14 Tage lang Mehl, Kartoffeln, Speiseöl und Wasser erhalten. Auch Hygieneprodukte, Mietzuschüsse und Kommunikationsmittel werden dringend benötigt.

https://youtu.be/OdQkzT6FiMA

Wie kann eine solidarische Textilbranche aussehen?

Gelten Fair Fashion Labels und andere nachhaltig agierende Akteure entlang der Lieferkette in der Gesamtbranche gern als weltfremd und idealistisch, ist spätestens durch Corona die Zeit gekommen, vermeintlich etablierte Strukturen wie Kollektionszyklen, Zuliefererbedingungen und Lieferketten zu überdenken. Ein „Weiter so“ KANN und DARF es nach Corona einfach nicht mehr geben. Werden Fair Fashion Akteure also vielleicht genau jetzt zu Vordenkern und Wegbereitern für eine neue Form des textilen Wirtschaftens? Mit Bridge&Tunnel haben wir bewusst ein Fair Fashion Label lanciert, das anders arbeiten und wertschätzen will. Das sich aber auch als Teil einer Fashion Community begreift, die davon überzeugt ist, dass es nur gemeinsam geht.

Die Hamburger Fashion Revolution Gruppe hat sich dieses Jahr daher etwas Besonderes ausgedacht. Wir haben nicht nur einen Text geschrieben, der erklärt, dass es zu unseren Grundwerten gehört, dass in unserer Wertschöpfungskette niemand unter unwürdigen oder gefährlichen Bedingungen arbeiten muss. Passend dazu haben wir einen Film gedreht, in dem wir beschreiben, was es in Corona-Zeiten heisst, zusammenzuhalten. Denn auch auf dieser Seite der Lieferkette sind wahnsinnig viele Menschen involviert, bis eine neue Kollektion verkauft werden kann.

 

Auch über Hamburg hinaus gibt es solidarische Aktionen: So wurde direkt zur Beginn der Corona Pandemie das Manifest #fairfashionsolidarity ausgerufen, in dem die Initiator*innen Akteure der Textilbranche zu mehr Solidarität aufrufen, um die faire Modebranche zu retten. Mehr als 250 Unterstützer*Innen, darunter Labels und Produzent*innen haben sich darauf geeinigt, durch gemeinsame solidarische Aktionen die verlorenen Verkaufsmonate zurückzuholen. Zu den Maßnahmen gehörten längere Zahlungsziele zwischen Shops und Produzenten, eine verspätete Auslieferung der Saison/Herbst Winter 2020, ein Umbau der Sommerkollektion 2021, so dass sie zum Vorjahr passt und die Mitnahme von Überhängen ermöglicht, sowie keine Rabatte nach Wiedereröffnung. Das Wichtige an #fairfashionsolidarity: es gelingt nur, wenn ALLE gleichermaßen mitziehen.

„We are only as strong as we are united, as weak as we are divided.“ J.K. Rowling

 

Nachdem der kleine Einzelhandel seit dieser Woche wieder öffnen darf, fragen wir uns, wie der neu erkannte Wert eines solidarischen Miteinanders auf weitere wirtschaftliche Aspekte übertragen werden kann? Corona zwingt alle Unternehmen zwangsläufig zum Umdenken. Könnte Corona – trotz Ungewissheit, Sorge und Existenzangst, die viele von uns zur Zeit in Atem hält – also vielleicht sogar eine Chance sein? Eine Chance, unser bisheriges Verhalten zu reflektieren, eine Chance, uns und unsere Unternehmen neu zu denken?

Schon länger zeichnet sich in vielen Wirtschaftszweigen – auch in der Textilindustrie – ab: immer schneller, höher, weiter kann nicht der Weg der Zukunft sein. Das zeigt uns nicht nur die Klimakrise, sondern auch die steigende gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Auch wenn wir, die das hier gerade lesen, uns höchstwahrscheinlich als „Gewinner“ der Globalisierung bezeichnen dürfen, zeigen stetig wachsende Zahlen von Burn-Out, Depressionen und Co: Produktivität, Selbstoptimierung, hohe Umsatzzahlen und unbegrenzter Konsum machen auf Dauer nicht glücklich.

Unsere Gesellschaft funktioniert nicht ohne Solidarität. Und unsere Wirtschaft könnte mit mehr Solidarität noch viel besser funktionieren. Auch nach der Krise wünschen wir uns Hilfsbereitschaft für Nachbarn, Bekannte und Verwandte. Auch nach der Krise wünschen wir uns Wertschätzung und Unterstützung für diejenigen, die jeden Tag Großes für die Gesellschaft leisten. Auch wenn es das Nähen eines T-shirts ist.

 

 

 

 

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