Warum man mehr verliert als nur einen Job. Interview mit Gudrun Stefaniak.

Langzeitarbeitslosigkeit! Ein ziemlich langes Wort, mit dem die meisten zu Recht wenig Leichtigkeit und Wohlbefinden verbinden. Denn nicht selten ist das Gegenteil der Fall: Oft entstehen aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus schwierige Lebensbedingungen für die betroffenen Menschen und ihre Familien – und das mit lang anhaltenden Konsequenzen. Aber was bedeutet eigentlich genau Langzeitarbeitslosigkeit, was macht die Perspektivlosigkeit mit den Betroffenen und welche Unterstützung bräuchten sie am meisten?

Das Thema ist uns ein großes Anliegen. Viele unser Mitarbeiter:innen im Produktionsteam waren schon einmal in der Situation und/oder haben durch die unterschiedlichsten Benachteiligungen erschwerten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Deshalb bemühen wir uns stetig, über das Thema aufzuklären und holen für euch die Informationen ein, die uns selbst am meisten weiterhelfen.

Wir freuen uns deshalb sehr, dass wir über das Thema ausführlich mit Gudrun Stefaniak sprechen konnten, die Geschäftsführerin unseres Trägers Passage gGmbH. Passage hat es sich zum Ziel gemacht, benachteiligten Menschen eine berufliche Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen. Deshalb ist die Qualifizierung von Arbeit suchenden Menschen für eine Tätigkeit auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt ihre Hauptaufgabe. Aktuell beschäftigt Passage ca. 400 Personen aus verschiedensten Förderprogrammen. Von eigenen Betrieben, zahlreichen Kooperationspartner bis hin zu Angeboten von Arbeitsgelegenheiten und Qualifizierungstätigkeiten bietet Passage viele verschiedene Wege an, um zurück in Arbeit zu finden. Bridge&Tunnel ist seit 5 Jahren ein Betriebsteil von Passage.

Liebe Gudrun, was bedeutet eigentlich Langzeitarbeitslosigkeit? Ab welchem Zeitraum spricht man von Langzeitarbeitslosigkeit?

Die simple Definition von Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet, dass jemand i.d.R. mindestens zwölf Monate arbeitslos bzw. arbeitssuchend gemeldet sein muss. Wenn jemand einer Beschäftigung nachgegangen und dann arbeitslos geworden ist, ergeben sich Anspruch auf Arbeitslosengeld aus den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung. Aber diese Versicherung läuft eben nur zwölf Monate und wenn man nach den zwölf Monaten noch immer ohne Job ist oder nicht erfolgreich vermittelt wurde, dann ist man automatisch langzeitarbeitslos und wechselt den gesetzlichen Kreislauf. Dann ist man nicht mehr im Sozialgesetzbuch III, sondern im Sozialgesetzbuch II und spricht von Hartz IV.

Gibt es eine Gruppe an Menschen in Deutschland, die das besonders betrifft?

Es gibt mehrere Gruppen an Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen besonders schnell in eine Langzeitarbeitslosigkeit rutschen und auch eine erschwerte Situation haben, dort wieder herauszukommen. Zum einen gibt es die „klassischen“ Langzeitarbeitslosen, die eher gering qualifiziert sind, einen schlechten bzw. keinen Schulabschluss haben oder eine Berufsausbildung vorweisen können.

Leider sind auch viele Alleinerziehende mit kleinen Kindern davon betroffen, doch in der Regel noch immer mehr Frauen, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können oder wollen.

Dann gibt es natürlich diejenigen, die über das Thema Flucht oder Migration keine Nachweise über ihre Berufsausbildung haben, diese verloren haben oder vielleicht auch nur eine geringe bzw. keine formale Qualifizierung mitbringen. Sie würde man dem Cluster „Geringqualifizierte“ zuordnen, aber das hauptsächliche Problem besteht einfach darin, dass sie Schwierigkeiten haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Zugang zu finden. Oft fehlt es an sprachlichen, kulturellen und sozialen Skills. Aber wie soll man sie erlernen, wenn man im System nicht Fuß fassen kann? Durch die Arbeitslosigkeit entsteht Hoffnungslosigkeit, fehlendes Selbstbewusstsein und oft auch Depressionen. Und so passiert es, dass das Gefühl von Chancenlosigkeit, Armut und Langzeitarbeitslosigkeit oft auf nachfolgende Generationen übertragen werden.

Und dann gibt es natürlich noch die Gruppe derjenigen, die gesundheitlich eingeschränkt sind und aufgrund ihres gesundheitlichen Handicaps keine Beschäftigung finden. Das kann eine Einschränkung von Geburt an sein, aber natürlich auch durch einen Arbeitsunfall oder ähnliches, wo es nicht möglich war, nach einer Genesung wieder Fuß zu fassen. Das betrifft natürlich auch Menschen mit psychischen Leiden z.B. durch Mobbing am Arbeitsplatz. Zu nennen wären auch noch Suchtprobleme, Obdachlosigkeit – oft ein Teufelskreis. Und um das noch mal festzuhalten: je mehr Eigenschaften du davon vereinst, desto schwieriger wird der Ausbruch aus der Arbeitslosigkeit.

Was tut das Jobcenter bei Langzeitarbeitslosigkeit und wo liegt der Unterschied bei der Arbeit, die z.B. Passage macht?

Die Arbeit des Jobcenters ist zweigeteilt. Zum einen gibt es die Leistungsabteilung. Die kümmert sich um die Antragstellung, und zum anderen gibt es die Fallmanager und die Integrationsfachkräfte. Ihre Aufgabe ist es, betroffene Menschen bei ihrer beruflichen Planung zu unterstützen, ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen und Angebote vorzulegen. Hier gibt es ganz klare Vorgaben: wie viele Fälle sie im Monat behandeln, wann und wie oft Gespräche geführt werden, wie es dokumentiert wird. Sie haben sogar Vorgaben, welche Maßnahmen bevorzugt angeboten werden müssen. Dahinter steckt, dass das Jobcenter Maßnahmen bei Bildungsträgern einkauft und diese müssen dann natürlich auch angeboten und vor allem besetzt werden, da sonst viel Geld ungenutzt zum Fenster herausgeschmissen wird. Das heißt, sie müssen aus ihrem gesamten System immer die passenden Leute für diese Maßnahmen kennen. Sollte mal eine Maßnahme nicht ausreichend besetzt sein, hat das zur Folge, dass arbeitslosen Menschen eine Maßnahme angeboten wird, die gar nicht 100% auf sie passt oder die sie eigentlich gar nicht machen möchten. Und das nur, damit die Maßnahmen ausgelastet sind.

Dieses zentrale und haushaltsnahe Verwalten hat oft mit dem einzelnen Menschen konkret nichts zu tun. Wir, als Passage in Zusammenschluss mit vielen anderen Bildungsträgern, kritisieren das seit Jahren. Es hat nämlich zur Folge, das Budgets oft nicht vollkommen ausgeschöpft werden und in der Summe nicht dort genutzt werden können, wo sie gebraucht werden. Das System ist so überreguliert, dass es oft keine flexiblen Spielräume gibt, mehr die einzelnen Menschen und Bedarfe im Blick zu haben und dies auch umsetzen zu können.

Im Vergleich zum Jobcenter können wir ganzheitlicher arbeiten. Das heißt, wir gucken uns den Menschen mit all seinen Facetten und Möglichkeiten an. Wir versuchen immer bei den Stärken der Einzelnen anzusetzen. Und jeder Mensch hat seine eigenen Stärken, auch wenn diese erste einmal freigelegt werden müssen. Das ist unser Job und nur darauf aufbauend kann man ermitteln, für welche Tätigkeit, welche Berufe oder Branche die Person geeignet ist. Das braucht Zeit und kann in einem System, wo Menschen auch sanktioniert werden können, oft gar nicht geschehen.

Wir als Bildungsträger sanktionieren nicht. Im Gegenteil. Wir setzten so viel wie möglich auf die Freiwilligkeit eines jeden Menschen. Die individuellen Stärken, aber auch das individuelle Sozialsystem im Blick zu haben, ist für uns entscheidend. Am Ende eines Tages sind wir natürlich auch an die Vorgaben des Jobcenters gebunden, aber wir versuchen, langfristige Förderketten aufzubauen. Das bedeutet immer gleich auch den nächsten Schritt im Blick zu haben und gemeinsam zu erarbeiten. Wenn eine Maßnahme beendet ist, die Menschen auch direkt ihren nächsten Schritt gehen können und dann nicht wieder perspektivlos dastehen. Das gelingt uns leider auch nicht immer, aber es ist unser Anspruch an unsere Arbeit.

Was ist die größte Unterstützung, die die Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit brauchen – neben dem neuen Job?

Menschen, die Schwierigkeiten haben einen Job zu finden, brauchen zuallererst immer Ermutigung, Ermutigung, Ermutigung!!! Damit sie nicht aufgeben und nicht nur mit Sorgen und Ängsten in die Zukunft blicken. Dann ist es ganz wichtig, dass sie im System bleiben, die Spielräume und Möglichkeiten voll genutzt werden und auch alle anderen Lebensbereiche stabilisiert werden. Und auch Menschen, die eine neue Perspektive finden, wie z.B. die Mitarbeiter:innen von Bridge& Tunnel, brauchen trotzdem Unterstützung, wenn es darum geht, Anforderungen von Krankenkasse, Jobcenter, Vermieter etc. einerseits sprachlich, aber auch praktisch für die Umsetzung zu verstehen. Diese Art Leistungen zur Stabilisierung müssen eigentlich die ganze Zeit durchlaufen – auch wenn sie gerade nicht in einer Maßnahme sind und sie keinen Arbeitsvertrag haben. Das ist total wichtig, um die Arbeitsfähigkeit der Menschen zu erhalten. Sie zum Weitermachen zu ermutigen und immer wieder an ihre Kräfte, Stärken und Ressourcen zu appellieren und sie ihnen zu spiegeln. In einer langen Isolation entwickeln sich Ängste, Aggressionen und Krankheiten. Menschen, die lange keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, müssen oft erst einmal wieder lernen mit anderen Menschen im kollegialen Umfeld zusammen zu sein, vielleicht sogar Kritik auszuhalten und alle Anforderungen und Regeln wie z.B. Pünktlichkeit zu erfüllen.

Ankommen und gebraucht zu werden mit dem, was man kann, ist für die meisten ein ganz großer und wichtiger Schritt.

Wie wichtig ist Arbeit für eine „gelungene“ Integration für Menschen mit Migrationsgeschichte? Gibt es hier besondere Herausforderungen? Wo sind Ansatzpunkte, wo man vielleicht noch „mehr“ tun könnte?

Aus meiner Sicht ist Arbeit ein ganz wichtiger Aspekt. Für Deutsche wie für Migrant:innen und Geflüchtete. Arbeit ist eben häufig der einzige Kontext, in dem kontinuierlich die deutsche Sprache gesprochen wird. Und wo man z.B. Konflikten oder Hierarchien nicht einfach aus dem Weg gehen kann, sondern lernen muss mit ihnen umzugehen. Und das ist schon ein wichtiger Faktor der Integration in die Gesellschaft. An der Stelle finde ich es aber auch wichtig zu betonen, dass wir immer über eine Integration von Menschen, die von außerhalb kommen, in ein bestehendes System sprechen. Das System inkludiert aber die Menschen nicht, sondern die Menschen müssen sich integrieren lassen. Das sind zwei verschiedene Bewegungen. Die gehen nicht aufeinander zu, sondern das eine ist statisch und das andere muss sich da irgendwie hineinbewegen.

Aber trotzdem ist natürlich klar: Menschen, die in einem Job sind, sind auch in ihrer Nachbarschaft anerkannter, lernen Fach- und Alltagssprache, lernen andere Menschen kennen und im besten Fall können sie viele ihrer Stärken einsetzen und erfahren Wertschätzung. Arbeit ist ein wichtiger Faktor genauso wie Bildung, wo der Schulbesuch für Kinder zwingend notwendig ist, auch wenn es noch keinen Asylstatus gibt. Ich persönlich finde den Begriff von Inklusion, wenn man ihn umfassend meint und nicht ausschließlich auf Menschen mit Handicaps bezieht, einfach stimmiger. Es geht doch darum, sich aufeinander zuzubewegen und sich neu ordnen zu können.

Wenn Menschen nach langer Arbeitslosigkeit wieder in den Job finden, was sind die größten Herausforderungen?

Wenn Menschen nach einer langen Arbeitslosigkeit wieder zurück in den Job finden, bedeutet das für viele, dass die gesamte Familienstruktur und Organisation geändert werden muss. Das ist vor allem der Fall, wenn Mütter wieder anfangen zu arbeiten, nachdem sie hauptsächlich die Versorgung der Familie übernommen hatten. Das ist nicht einfach und bedeutet für die Kinder und Partner oft eine große Umstellung und Akzeptanz der neuen Situation. Zudem gibt es auch viele organisatorische Dinge zu klären wie z.B. mit dem Jobcenter und anderen Stellen, bei denen man vielleicht andere Leistungen bezogen hat.

Im Job selbst ist es dann die Herausforderung, im kollegialen Gefüge klar zu kommen. Mit Menschen, die vielleicht nicht zu einem passen, mit Kritik von anderen, aber auch den Umgang mit den eigenen Fehlern. Hier ist es so wichtig, dass die Menschen nicht gleich das Handtuch schmeißen, sondern sich selbst Zeit geben damit umzugehen und sich in der neuen Situation zurechtzufinden.

Welche Art von Programmen/Ansätzen/Konzepten müsste es deiner Meinung nach noch mehr geben, um noch mehr Menschen ohne Arbeit zurück in den Job zu bringen?

Es ist so wichtig, dass die Lücken zwischen den Programmen geschlossen werden. Also die Tatsache, dass es direkt Anschlussmöglichkeiten gibt. Dass Menschen, die z.B. eine Arbeitserprobung beginnen, danach nicht direkt wieder in ein Loch fallen, sondern gleich weitermachen können. In Hamburg gibt es z.B. das Projekt „Fluchtort Hamburg“. Hier hat sich ein Netzwerk aus vielen unterschiedlichen Trägern und Angeboten zusammengeschlossen, um Menschen innerhalb des Verbundes von A nach B zu bringen, um genau diese Förderlücken zu schließen.

 

Das Interview führte Katja Diembeck.